
Ich sitze hier in meiner Küche, an meinem kleinen Küchentisch vor meinem Laptop und lasse die letzten Tage Revue passieren. Innerhalb von einer Woche hat sich so viel verändert da draußen in der Welt. Plötzlich herrscht Krieg in Europa. So viele Menschen mussten ihre Heimat verlassen, sich irgendwo in Sicherheit bringen oder zur Waffe greifen. Um sich zu verteidigen. Um ihr Land zu verteidigen. Um ihr Leben zu verteidigen. Und das Leben von so vielen anderen. Und während sich das Leben für die gesamte ukrainische Bevölkerung von einem Tag auf den anderen in einen Alptraum verwandelt hat, ist mein Leben einfach gleich geblieben. Zumindest im Außen.
Meine Privilegien machen mich demütig
Noch immer sitze ich hier, gemütlich in meiner Wohnung. Noch immer drehe ich meine Heizung auf, schalte gegen Abend das Licht an und noch immer kommt warmes Wasser aus meinem Wasserhahn. Kommt überhaupt Wasser aus meinem Wasserhahn. Ich gehe nach wie vor in den Supermarkt ums Eck, koche mir mein Essen, sitze an meinem Schreibtisch im Home Office, habe Telefonate mit Kund:innen, gehe zum Arzt, treffe Freund:innen und schlafe nachts in meinem großen, warmen Bett während es draußen ruhig ist. Und ja, manchmal fühle ich mich dafür schuldig. Schuldig für meine Privilegien. Schuldig, dass ich in Sicherheit bin. Schuldig, dass ich alles habe – während so viele andere nichts haben, niemals hatten oder gerade alles verlieren. Das ist ein Thema, das mich ohnehin schon mein Leben lang begleitet. Aber jetzt, mit diesem so nahen Krieg, kriechen sie wieder in mir hoch. Die Schuldgefühle. Und ja, auch wenn meine Schuldgefühle niemanden weiter helfen. Es ist ok, dass sie da sind. Sie lassen mich die Realität sehen, so wie sie ist. In all ihrer Ungerechtigkeit. Sie lassen mich demütig und dankbar sein. Demütig meinem Leben gegenüber, dankbar für all das, was ich habe. Für all die Fülle, die in meinem Leben ist. Für all die Sicherheit, die ich genießen darf. Für all die Leichtigkeit und Freude, die mich so oft begleitet. Und ich kann die Schuldgefühle transformieren, meine Privilegien nutzen und etwas zurückgeben.
Darf ich noch immer nach meinem wahren Selbst suchen?
Während sich im Außen nichts für mich geändert hat, ist doch vieles anderes: Jeden Morgen wache ich auf und denke mir „Nein, das kann nicht sein. Ist jetzt wirklich Krieg in Europa?“ Manchmal schlafe ich nachts schlecht und träume davon, dass ein Komet auf die Erde zufliegt und wir kurz vor dem Untergang stehen. Wenn ich morgens die Nachrichten aufdrehe, zögere ich immer ein wenig, weil ich besorgt überlege, was wohl wieder Schreckliches in der vergangenen Nacht passiert ist. Auf den Online-Nachrichtenseiten springen mir nun nicht mehr die Corona-News, sondern die furchtbaren Kriegsberichte aus der Ukraine ins Auge. Ich versuche, nicht zu viele Nachrichten zu lesen, weil es mich belastet und will mich bewusst auch immer wieder abgrenzen. Und ja, ich weiß: auch das ist ein unglaubliches Privileg. Ich recherchiere regelmäßig, wo von wem welche Sachspenden gesammelt werden und informiere mich, wann die nächste Demo organisiert wird. Ich spreche mit meinen Freund:innen über die Ereignisse, wir helfen uns gegenseitig, Zuversicht und Halt zu finden und sind aber oft auch gemeinsam sprachlos. Auf Instagram zögere ich, wenn ich „normalen“ Content posten möchte. Kann ich jetzt darüber sprechen, dass es das Wichtigste im Leben ist, uns selbst zu erkennen, uns mit unserem Wesenskern zu verbinden und unser wahres Selbst zu befreien? Hat das noch Gültigkeit? Oder irgendeine Berechtigung?
Was bedeutet es, in Zeiten des Krieges spirituell zu sein?
Was bedeutet es überhaupt, ein spiritueller Mensch zu sein in Zeiten des Krieges? Was bedeutet es, ein spiritueller Mensch zu sein, wenn ich in einem Land lebe, in dem Frieden herrscht – während so viele andere Menschen auf dieser Welt in Krieg, Konflikt, Terror und Unsicherheit leben? Darf ich mir meine Spiritualität erlauben? Darf ich mich auf meine Yogamatte setzen, meditieren und den Frieden in mir suchen? Was bringt es den Menschen da draußen, die bedroht, verängstigt und in Lebensgefahr sind, wenn ich mich mit meiner inneren Wahrheit verbinde? Macht es ihr Leid irgendwie weniger schlimm, hilft es ihnen irgendwie in ihrer Angst? Ja, solche Fragen verunsichern mich. Und doch spüre ich, tief in mir drinnen, dass meine Spiritualität auch jetzt wichtig ist.
Denn ein spiritueller Mensch zu sein, bedeutet für mich, mich mit allen Menschen, mit jedem Lebewesen, mit der Natur und dem Universum verbunden zu fühlen. Ein spiritueller Mensch zu sein, bedeutet für mich, dass das Leid von jedem anderen auch mein Leid ist. Denn ich bin sie und sie sind ich. Wir sind alle eins – und nie spüren wir das mehr als in Zeiten von Krisen, Kriegen, Katastrophen. Ich kann mich selbst niemals ohne die anderen denken. Wir spüren das jetzt so deutlich. Obwohl wir hier in Österreich in Sicherheit sind, weiterhin alles haben, was wir brauchen, geht es so vielen Menschen gerade so schlecht. Sind so viele Menschen gerade alles andere als sicher. Und deshalb liegt auch hier so viel Schwere in der Luft, spüren auch wir hier in Österreich diesen Schmerz. Denn wir sind alle miteinander verbunden. Trennung ist eine Illusion.
Meine Verbundenheit gibt mir Handlungsmöglichkeiten

Und genau diese Verbundenheit, die mich den Schmerz der anderen fühlen lässt, gibt mir Handlungsmöglichkeiten. Weil es eben nicht egal ist, ob ich etwas tue – oder nicht. Weil ich eben doch wirksam sein kann. Weil ich eben doch etwas verändern kann in diesem großen System Leben. Ja, ich weiß. Den Krieg in der Ukraine, den kann ich nicht beenden. Aber ich kann dennoch etwas tun. Ich kann helfen. Ich kann Geld spenden oder Sachspenden abgeben. Ich kann auf eine Demo gehen und damit ein Zeichen setzen. Das Zeichen, dass mir dieser Krieg nicht egal ist. Das Zeichen, dass hier großes Unrecht geschieht. Das Zeichen, dass ich mit den Menschen in der Ukraine solidarisch bin. Ich kann mit meinem Umfeld über den Krieg sprechen. Ich kann mich austauschen, Bewusstsein schaffen. Und ich kann wichtige Inhalte und Spendenaufrufe auf Social Media teilen. Auch dann, wenn ich dort weiterhin meinen „normalen“ Content veröffentliche.
Welcher Mensch möchte ich in dieser Situation sein?
Ich kann unterstützen, ich kann Zeichen setzen, ich kann etwas tun. Im Außen. Im Rahmen meiner Möglichkeiten, meiner Ressourcen, meiner Kapazitäten. Und gleichzeitig kann ich weiter nach innen gehen. Weiter meine innere Arbeit tun. Weiter in die Verbindung gehen. In die Verbindung mit jenem Teil in mir, der immer heil ist, unverletztbar und voller Energie. Jenem Teil in mir, dem einfach nichts passieren kann. Niemals. Denn dort liegt mein Vertrauen, meine Stabilität, meine Kraft.
Meine Spiritualität hilft mir auch, mir in Zeiten wie diesen wichtige Frage zu stellen: Welcher Mensch möchte ich in dieser Situation gewesen sein? Möchte ich der Mensch gewesen sein, der den Kopf in den Sand steckte, der sich von der Angst treiben lies oder der Wut die Führung übergab? Oder möchte ich der Mensch gewesen sein, der im Vertrauen blieb, in der Zuversicht, in der Verbindung mit mir selbst und mit anderen – und der versuchte, dieses Vertrauen, diese Zuversicht und diese Verankerung in mir selbst auch an andere weiterzutragen? Möchte ich der Mensch gewesen sein, der die Welt aufgegeben hat und das Ende der menschlichen Existenz kommen sah – oder möchte ich der Mensch gewesen sein, der weiter an die Menschheit glaubte, an die Liebe, die Verbundenheit und all das Schöne, das hier auf dieser Erde auch existiert? Möchte ich der Mensch gewesen sein, der nur mehr die Schatten sehen konnte – oder möchte ich der Mensch gewesen sein, der sich erlaubt hat, weiterhin ins Licht zu blicken?
Ich darf mein Herz weinen lassen
Meine Spiritualität leitet mich, mich in Gleichmut zu üben. Anzuerkennen, dass das Leben Licht und Schatten ist. Zu akzeptieren, dass Widersprüchlichkeiten zum Leben dazu gehören. Dass vieles im Leben Sinn macht. Und gleichzeitig darf ich mir auch eingestehen, dass es Dinge im Leben gibt, die einfach keinen Sinn haben. Nicht auf dieser menschlich erfahrbaren, körperlichen Ebene. Dass es Leid gibt, das so furchtbar ist, sodass ich einfach nur mehr still werden kann. Still werden, um (mit) zu fühlen und mein Herz weinen zu lassen.
Meine Spiritualität hilft mir dabei, meiner Angst in die Augen zu blicken, meine Trauer zu fühlen, im Feuer der Wut stehen zu bleiben. Mir einzugestehen, dass ich nichts weiß. Dem Nichtwissen Raum zu geben. Zu sehen, dass Sicherheit eine Illusion ist. Anzuerkennen, dass das gesamte Leben ein Risiko ist. Mich dafür zu öffnen, dass ich einfach keine Kontrolle habe. Mich hinein zu entspannen in die Wahrheit, dass ich niemals Leid, Schmerz, Angst aus meinem Leben entfernen werde können.
Den Schmerz brennen lassen & darin Heilung finden

Spirituell zu sein bedeutet für mich, alle Emotionen durch mich hindurch fließen zu lassen, sie in mir brennen zu lassen ohne in Drama oder Panik zu verfallen. Spiritualität bedeutet für mich, Heilung in der Zartheit des Schmerzes zu finden. Denn erst, wenn ich aufhöre, Angst vor dem Schmerz zu haben, erst wenn ich zulasse, dass der Schmerz in der Welt mein Herz berührt, kann ich diesen Schmerz in Mitgefühl verwandeln. Ich kann den Widerstand aufgeben, die Abwehr loslassen. Ich kann aufhören, Leid von mir fernhalten zu wollen. Ich kann es zulassen – das Weinen, die Trauer, die Angst. Und auch den Widerspruch akzeptieren, dass Leid und Glück nebeneinander existieren können. Ich kann einfach fühlen, was da ist – und dann kann ich all das in etwas Zartes verwandeln. Mir selbst, allen anderen, dem Leben gegenüber. Aus dieser Zartheit heraus anderen beistehen. Und dafür braucht es die Verankerung in mir, die Stabilität in mir, die ich nur entwickeln kann, wenn ich nach innen gehen. Eintauche in meine Wahrheit. Immer und immer wieder.
Fotocredit Titelbild: Romesh Phoenix